ARAT_words.html

2014

ARAT

ALESCHABIRKENHOLZ

BY

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UEBER DIE ENTSTEHUNG VON

WIRKLICHKEIT

Wenn ich einen Baum auf einer Wiese sehe, woher weiß ich, dass da in Wirklichkeit ein Baum auf einer Wiese ist? Wie kann ich den Unterschied zwischen Vorstellung und Wirklichkeit erkennen? Ich könnte zum Beispiel jemanden fragen, der gerade neben mir steht, ob auch er den Baum auf der Wiese sieht. Oder ich könnte, falls ich allein bin, einfach zum Baum hingehen und ihn anfassen. In beiden Fällen würde ich durch die Verdoppelung der Wirklichkeitsinformation mich in der Annahme bestätigt sehen, dass da ein Baum auf einer Wiese steht. Aber reicht das bereits aus, um die Annahme von Wirklichkeit zu bestätigen? Und ist das, was ich für wirklich halte, bereits Wirklichkeit?

Wenn jemand neben mir steht, so ist seine Wahrnehmung des Baumes schon allein aufgrund der verschiedenen Perspektive von meiner Wahrnehmung unterschiedlich (und wird es immer bleiben, solange wir den Baum gleichzeitig anschauen). Und ganz abgesehen von der Perspektive hat jeder Mensch eine eigene Art die Dinge zu sehen, vielleicht erscheint ihm der Baum größer als mir, vielleicht einfach nur grüner?

Wenn ich daher beschließe, den Wirklichkeitsgehalt des Baumes dadurch zu überprüfen, indem ich selber auf den Baum zugehe, um ihn anzufassen, werde ich feststellen, dass sich die Erscheinung des Baumes mit jedem Meter, dem ich ihn näher komme, verändert. Nicht nur werde ich neue Details erkennen, auch seine Gesamterscheinung wird sich für mich verändern. Allein mit jedem Meter, den ich mich dem Baum nähere, verändert sich kontinuierlich das, was ich für Wirklichkeit gehalten habe, bis eben zu jenem Moment, indem ich den Baum anfasse. Ich spüre seine Oberfläche und glaube durch einen weiteren Sinn, den Baum auf diese Wiese in seiner Wirklichkeit eingekreist zu haben. Aber wer sagt mir, dass das alles jetzt keine Illusion, kein Traum ist, dass ich den Baum in Wirklichkeit gesehen habe, auf ihn zugegangen bin und ihn berührt habe?

Wie das Beispiel mit dem Baum auf der Wiese zeigt, scheint es noch nicht einmal geklärt zu sein, ob das, was ich sehe, von der Retina meines Auges oder von den Zellen in meinem Gehirn gesehen wird. Denn auf der Netzhaut meines Auges werden wesentlich mehr Informationen generiert als ich mich erinnern kann: die Zweige des Baumes, seine Blätter mit ihrer Struktur und ihrer Farbigkeit, die Schwärze der Rinde, die Wiese, die Höhe des Grases, ob Blumen zu sehen sind und wenn welche und in welcher Anordnung, ob der Himmel klar ist, wie das Blau beschaffen ist oder vielleicht auch das Grau, in welchem Verhältnis die Wolken zum Baum stehen, ist der Himmel hoch oder tief, sind die Wolken schwer oder aufgerissen usw. All diese Informationen nimmt meine Retina auf und leitet sie an mein Gehirn weiter. Und dennoch sehe ich nur einen Baum auf einer Wiese, lasse all die Informationen unberücksichtigt und frage mich, ob das, was ich sehe, Wirklichkeit ist.

All diese Informationen auf meiner Retina scheinen bedeutungslos und erst mein Gehirn erweckt sie zur Wirklichkeit, denn wäre da nur meine Retina, dann gäbe es, wenn ich die Augen schließe, mit einem einzigen Augenschlag keinen Baum, keine Wiese, keine Wolken, keine Blumen, kein Gras und keine Blätter mehr. Erst meine Gehirn bewirkt, dass ich das, was ich sehe (so eingeschränkt das auch sein mag) für Wirklichkeit halten kann, auch dann, wenn ich es nicht sehen. Und genau diese Fähigkeit meines Gehirns ist es, die die Katze, die die ganze Zeit unter dem Baum gesessen hat, als eine Katze zu sehen, die bereits die ganze Zeit unter dem Baum gesessen hat, und nicht als eine neue Wirklichkeit.

Um auf meine Frage nach der Wirklichkeit zurück zu kommen, zeigt sich mir beim Anblick des Baumes, dass sich die Wirklichkeit Stück für Stück zusammen setzt, obgleich sie ganz offensichtlich nicht bestätigt werden kann. Aber die Wirklichkeit des Baumes auf der Wiese besteht, solange ich mich an den Baum auf der Wiese erinnern kann. Folglich müsste ich sagen, dass die Wirklichkeit des Baumes auf der Wiese solange wirklich ist, solange ich bin. Woraus wiederum folgt, dass ich ein Teil der Wirklichkeit bin, denn diese nicht überprüfbare Wirklichkeit existiert eben solange, solange ich bin: Der Baum auf der Wiese und ich sind eine einzige Wirklichkeit.

Aber wenn ich die Wirklichkeit dermaßen auf die Existenz meiner eigenen Person eingrenze, kann ich dann überhaupt noch von einer Wirklichkeit sprechen oder sollte ich nicht lieber einfach von meinen Sinneseindrücken und Gedanken reden? Ist dann nicht alles, was man mit Wirklichkeit verbindet, niveliert?

Wirklichkeit ist das, was wir aus der Realität machen.

Wenn sich meine Wirklichkeit in einen Solipsismus auflöst, welche Bedeutung kommt dann der Realität zu? Der solipsistische Weg scheint offensichtlich ein falscher zu sein, zumindest dann, wenn ich davon ausgehe, nicht der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Denn wenn es auch außerhalb meiner Wirklichkeit liegt, muss ich wohl zugeben, dass in Amerika Menschen leben. Unabhängig von meiner Wirklichkeit gibt es eine Realität, die auch dann zu existieren scheint, wenn meine Wirklichkeit von ihr nicht betroffen wird. Es steht mir aber frei, nach Amerika zu fahren und an jener Realität Teil zu haben, also meine  Wirklichkeit mit jener Realität in Überschneidung zu bringen. Die (amerikanische) Realität wird dann zu einem Aspekt meiner Wirklichkeit: Meine Wirklichkeit ist ein Teil der Realität.

Wirklichkeit und Realität verhalten sich zueinander wie eine Teilmenge zu einer übergeordneten Ganzen. Die Wirklichkeit ist ein Ausschnitt aus der Realität, die im wesentlichen aus meiner subjektiven Wahrnehmung konstituiert wird. Die Realität ist der Stoff, aus dem sich (meine) Wirklichkeit bildet. Was Realität ist, kann ich nicht sagen, alles was ich beurteilen kann, ist jener Moment, in dem sich meine Wirklichkeit mit der von mir unabhängigen Realität überschneidet. Wie aber wird aus Realität Wirklichkeit?

Indem ich Anteil an der Realität nehme, mache ich einen Teil der Realität zu (meiner) Wirklichkeit. Das Umwandeln von Realität in Wirklichkeit erfolgt durch Partizipation, indem Subjekte an der Realität teilhaben und Informationen aus der Realität beziehen. Das Extrahieren von Informationen aus der Realität führt zur Bildung von Wirklichkeit. Da es unmöglich ist, alle in der Realität enthaltenen Informationen zu registrieren, kommt der Entnahme von Informationen aus der Realität bei der Bildung von Wirklichkeit eine wesentliche Bedeutung zu.

Es ist nicht so sehr die Frage, was ich sehe, als vielmehr welche Informationen aus dem Akt des Sehens registriert und in welchem Zusammenhang sie gesetzt werden. Aber nach welchen Gesetzen werden diese Informationen gefiltert? Wenn ich auf einer Wiese einen Baum sehe, kann mich beim Anblick des Baumes seine Form ansprechen oder seine Gattungszugehörigkeit beschäfftigen oder einfach nur sein materieller Wert interessieren. Auf alle Fälle habe ich den Baum wahrgenommen und er ist ein Teil meiner Wirklichkeit geworden, der ästhetischen oder der biologischen oder eben der materiellen. Wahrnehmung erfolgt meist selektiv, indem Teile der Realität heraus gefiltert und unter Umständen in neue Zusammenhänge gesetzt werden. Die Filterung hat verschieden Ursprünge, vorab individuelle, dann kulturelle und schließlich interessensorientierte.

Der Baum auf der Wiese gehört insofern zur Wirklichkeit, als ich ihn wahrnehme; er ist dann ein Teil meiner Wirklichkeit. Aber unabhängig von meiner Wirklichkeit gehört der Baum auf der Wiese zur Realität, zur reinen Möglichkeit, die mit all ihren möglichen Objekten ein Teil meiner konstitutiven Wirklichkeit sein kann. Was die Realität ist, kann ich nicht sagen, da sie als reine Möglichkeit alles oder nichts ist. Aber hinsichtlich der Frage nach der Wirklichkeit, kann ich zumindest feststellen, dass die Wirklichkeit in weiten Zügen etwas mit mir zu tun hat, mit meiner Weise der Welt zu begegnen und sie wahrzunehmen. Wirklichkeit ist etwas, das im wesentlichen hoch subjektiv ist. Aber sie enthält in ihrer Grundstruktur das Objektive, da sie sich aus den Elementen der Realität bildet. In der Wirklichkeit trifft das Subjekt auf die Realität, verbindet sich mit ihr (so weit das Subjekt das kann) und wird (selbst) zur Wirklichkeit.