SEHWEISE
SEHWEISE
UND
SEHGEWOHNHEIT
Die Sehweise ist schlicht die Art und Weise, wie man etwas betrachtet: von nahem, von weitem, genau, oberflächlich, spezifisch, allgemein. Die Sehgewohnheit ist die institutionalisierte Sehweise: Man ist gewohnt, die Dinge aus dieser oder jener Perspektive wahrzunehmen. Die Sehweise ist eine individuelle Art, die Dinge zu betrachten. Die Sehgewohnheit scheint weitgehend durch gesellschaftliche Faktoren bestimmt.
Beidem, der Sehweise wie der Sehgewohnheit, liegt ein „Konstrukt“ zugrunde, das vor dem Sehen stattgefunden hat. Denn: man sieht nur, was man bereits kennt oder wonach man sucht (also eine gewisse Ahnung hat). Die Aufmerksamkeit richtet sich auf das Bekannte.
In jeder Gesellschaft gibt es Normen. Normen werden geschaffen, verändern sich, vergehen. Die Normen bestimmen die Erscheinung einer Gesellschaft; sie sagen, was einer Gesellschaft wichtig ist. Daher lenken unter anderem die Normen die Aufmerksamkeit und somit den Blick auf die Welt. Die gesellschaftlich bestimmte Sehgewohnheit beeinflusst die individuelle Sehweise.
Man könnte statt von Sehweise und Sehgewohnheit von subjektiver und objektiver Wahrnehmung sprechen. Dabei wird deutlich, dass es im eigentlichen Sinne kein objektiv gibt, dass es sich hierbei vielmehr um eine generierte Subjektivität handelt. Um dennoch „objektiv“ zu bleiben, bemüht sich das Individuum, eine Sehgewohnheit einzunehmen, die möglichst derjenigen entspricht, die von der Allgemeinheit als richtig eingestuft wird, sozusagen objektiv erscheint. Das ist nicht verkehrt, das ist lediglich nicht die einzige Möglichkeit, die Welt zu betrachten.
Wenn es demnach vielleicht überhaupt keine Objektivität gibt, diese vielmehr vom Konsensgedanken abhängig ist, dann scheint es möglich, dass sich Objektivität verändern kann. Auf die Sehweise und Sehgewohnheit übertragen, bedeutet das, dass eine Sehgewohnheit durchaus verändert werden kann, wenn nur genügend Sehweisen existieren, die konsensfähig sind. Es ist folglich wahrscheinlich, dass eine andere Sehweise die Sehgewohnheit verändert, vorausgesetzt, dass sie von anderen Individuen nachvollzogen wird.
Aus diesen Vorüberlegungen ergeben sich für mich zwei wesentliche Punkte, der eine bezieht sich auf die Fotografie, der andere auf den Fotografen.
Die Fotografie ist kein Medium, das per se objektiv ist, sondern lediglich mehrheitsfähig. Ihre Mehrheitsfähigkeit resultiert daraus, dass sie so beschaffen ist, dass sie dem menschlichen Sehapparat und der visuellen Wahrnehmung weitgehend entspricht, während gleichzeitig die menschliche Wahrnehmung aufgrund kognitiver Dispositionen unglaublich tolerant ist. Aus diesem Grund wird allgemein angenommen, dass das, was auf einer Fotografie zu sehen ist, nicht nur existiert, sondern auch wahr ist, selbst dann, wenn es sich um eine Schwarz-Weiß-Fotografie handelt oder die Linien eines Hauses stürzen. Die Fotografie repräsentiert demzufolge eine Sehgewohnheit und wird allein aufgrund dessen als objektiv betrachtet.
Diese Überlegung führt mich unmittelbar zum Fotografen, der vorab eine Sehweise verkörpert, da der Fotograf in dem Moment, in dem er den Auslöser betätigt, mit seiner Entscheidung allein steht. Das auf sich selbst Zurück-Geworfen-Sein ist Voraussetzung für eine individuelle Sehweise. Es kommen somit im Akt des Fotografierens die Fotografie als Sehgewohnheit und der Fotograf mit seiner Sehweise zusammen. Abhängig wie stark die individuelle Sehweise beim Fotografen ausgebildet ist, respektive wie hoch der Anteil der Subjektivität gegenüber der Objektivität ist, zeigt sich beim Fotografen der individuelle Blick auf die Welt. Da der Fotograf aber bei seiner mehr oder weniger individuellen Sicht auf die Welt (Sehweise) sich eines mehr oder weniger objektiven Mittels (Sehgewohnheit) bedient, ergibt sich im Moment des Fotografierens ein spannungsreiches Gefüge aus subjektiv und objektiv, aus Sehweise und Sehgewohnheit. Dieses spannungsreiche Gefüge ist der Nährboden, oder schlichter ausgedrückt der Ursprung, für etwas neues. Das Neue bedarf des Vorhergegangenen, um sich zu kontrastieren und des Noch-Nicht-Dagewesenen, um sich zu modifizieren. Die Fotografie scheint (wie kaum ein anderes Medium) dazu geeignet, die Sehgewohnheit und damit die Gesellschaft zu verändern, da der subjektive Anteil im Entstehungsprozess mitgedacht werden kann, zum Teil muss, und folglich ein Dialog zwischen Sehweise und Sehgewohnheit eröffnet wird.
So gesehen ist der Künstler-Fotograf ein praktizierender Philosoph, solange er nicht ins Lager der Sophisten wechselt. Die Bedeutung der Fotografie liegt demnach darin begründet, dass sie aus der Gesellschaft hervorgegangen ist. Ihr Potential ruht in ihrer Veranlagung, sich aus Sehweise und Sehgewohnheit zu konstituieren. Wie die Sehgewohnheit die Sehweise bestimmt und dennoch die Sehweise die Sehgewohnheit verändern kann, so ist der Fotograf der Fotografie ausgeliefert und kann sie trotz allem in seinem Sinne erweitern, abwandeln, modifizieren.
2012
ARAT
ALESCHABIRKENHOLZ
BY