DIE FOTOGRAFIE

ALS MODELL

DER WIRKLICHKEIT

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2013

Im Gegensatz zur Schwarz-Weiß-Fotografie scheinen Farbfotografien deutlich stärker auf die Wirklichkeit zu verweisen, da die Farbigkeit einen mittelbaren Bezug zwischen dem Abbild und dem Betrachter schafft. Entgegengesetzt: Die aufgrund der fehlenden Farbigkeit entstehende Distanz zwischen Betrachter und Abbild rückt bei der Schwarz-Weiß-Fotografie den Bildträger in den Vordergrund. Man betrachtet Schwarz-Weiß-Fotografien eher als Bilder denn als Abbilder.

Die Fotografie ist wie ein Modell an die Wirklichkeit angelehnt. *1 Wenn gilt, dass Fotografien Modelle der Wirklichkeit sind, stellt sich die Frage, ob nun die Fotografie oder das Abbild auf der Fotografie als Modell der Wirklichkeit zu verstehen ist? Worin unterscheidet sich der Bildträger vom Bildgegenstand? Im pragmatischen Sinne könnte die Antwort lauten: Der Bildträger ist flach, hat Ecken und ist statisch. Während der Bildträger gleich bleibt, kann der Bildgegenstand n-fach auf dem Bildträger abgebildet werden. Demnach wäre es wohl der Bildgegenstand einer Fotografie, der wie ein Modell an die Wirklichkeit angelehnt ist. Da allerdings der Bildgegenstand unmittelbar auf den außerhalb des Bildes existierenden Gegenstand verweist, ist der Bildgegenstand lediglich eine Referenz auf den Gegenstand an sich. Hingegen zeigt die Fotografie, sofern es sich nicht um eine partikuläre Sachaufnahme handelt, den Gegenstand innerhalb einer gewissen Struktur, die sich aufgrund der Zusammenstellung verschiedener Gegenstände ergibt. Wenn man annimmt, dass es zum Wesen eines Modells gehört, eine Struktur zu enthalten, gelangt man zu dem Schluss, dass es am Ende doch die Fotografie und nicht der Bildgegenstand ist, die wie ein Modell an die Wirklichkeit angelehnt ist. *2

Die präjudizierte Feststellung führt zwei Konsequenzen mit sich. Zum einen gibt es unendlich viele Modelle, da es unendlich viele Ansichten der Wirklichkeit gibt. Zum anderen gibt es keine preexistente Modelle, da sich im Modell immer wieder die Sicht des Betrachters aufs Neue zeigt. Das Modell ist eine mögliche Ableitung der Wirklichkeit. Die Fotografie ist eine Möglichkeit der Wirklichkeit. Nach dem Wesen der Fotografie zu suchen, gleicht in vielem der Frage nach dem Modell.

Wenn Modelle Urteile über die Wirklichkeit abbilden, kann man fragen, ob es hinsichtlich dieser Urteile Unterschiede gibt, die sich nicht nur auf die spezifische Eigenart verschiedenartiger Modelle beziehen, sondern auch auf ihre Qualität? Denn sowenig alle Fotografien gleichwertig sind, so wenig sind alle Modelle gleich.

Mit dem Modell geht vorab eine Relation einher, da in einem Modell gegeben sein muss, dass es zu jedem A ein A’ gibt. A und A’ stehen in einer Relation zueinander, soll das eine das andere abbilden. Diese Relation wird qualitativ in dem Maße verstärkt, je näher A’ an A liegt. Hinsichtlich der Quantität einer Relation steigt das Gefüge einer Relation, je mehr Elemente enthalten sind. Eine Fotografie ist folglich nicht allein deshalb eine gute Fotografie, also ein Modell, weil sie die Wirklichkeit sehr nahe abbildet, sondern sie ist ein gutes Modell, wenn sie darüber hinaus möglichst viele Elemente (welcher Art auch immer) der Wirklichkeit enthält.

Das Modell weist neben seinen Relationen eine Struktur auf, so dass das Modell (auf die Wirklichkeit) übertragen werden kann. Darüber hinaus lassen sich Modelle in drei Klassen unterteilen: mögliche Modelle, wirkliche und notwendige Modelle. Mögliche Modelle enthalten Elemente der Realität, aber in einer bislang unbekannten Struktur. Das wirkliche Modell gleicht hinsichtlich der Struktur und seiner Elemente einer im Allgemeinen für wirklich angenommenen Realität. Das notwendige Modell zeigt eine Struktur, die für eine große Klasse von Sachverhalten zutrifft, aber nur sehr wenige konkrete Elemente enthält. Ein mögliches Modell wäre zum Beispiel eine Utopie, ein wirkliches Modell eine Illustration und ein notwendiges Modell eine wissenschaftliche Formel. Was allen Modellen gleich ist, ist, dass sie lediglich erläutern, sie erweitern die bestehenden Sachverhalte nicht, sie fügen nichts hinzu, weshalb Modelle letztlich nur Urteile sind. Modelle sind Ableitungen, sie bilden keine neuen Sachverhalte, sie bilden sie lediglich ab.

Unabhängig wie viele Möglichkeiten es von Modellen gibt, ist es für jedes Modell eigentümlich, dass es die Struktur von dem enthält, von dem es ein Modell sein soll, wenn ein Modell eine Ableitung, eine Übertragung ist. Unter Ableitung verstehe ich, dass ein Sachverhalt nach einem bereits Bestehenden geschaffen wird. Die äußere Erscheinung ist dabei nur insofern von Bedeutung, als mit ihr eine Struktur verbunden ist, als sich im Äußeren etwas über das Innere zeigt. Unter Modelle dieser Art fallen die Abbilder.

Fotografien sind, sofern sie keine pikturalistischen Ansätze enthalten, reine Abbilder, da sie eine unmittelbare Ableitung der Wirklichkeit darstellen. Die subjektive Filterung der Wirklichkeit führt proportional ihrer Intensität zum Bild. Reine Bilder sind daher Modell, die nahezu ohne Ableitung (von etwas) als Konstrukte geschaffen werden, die als Modelle - dem lesbischen Maß vergleichbar - solange mit der Wirklichkeit verglichen werden, bis sich eine Möglichkeit der Übertragung ergibt. Ebenfalls zur Klasse der Bilder gehört das Klischee. Klischee bedeutet im wörtlichen Sinne Druckstock. Mittels eines Druckstockes wird ein Abbild vervielfältigt, es entsteht ein Abziehbild. Abziehbilder sind im eigentlichen Sinne weder Bilder noch Abbilder, da sie weder abbilden noch bilden, sondern eine Abbildung nachahmen. Abziehbilder enthalten keine eigene Struktur, sie geben nur die Struktur wieder, von dem sie ein Abziehbild sind. *3 Entsprechend der Mannigfaltigkeit der Modelle sind Fotografien mal mehr Bilder, mal mehr Klischees, wobei es ihnen nicht möglich ist, ausschließlich das eine noch das andere zu sein.

Mit dem Modellgedanken geht einher jener vom Universellen. Ein Modell ist umso brauchbarer, je anwendbarer es auf die Wirklichkeit ist. Ein universelles Modell kann per Definition seine Wirksamkeit, seine Übertragbarkeit nie verlieren. Das Modell ist immer auf die Wirklichkeit übertragbar, solange die Wirklichkeit so beschaffen ist, dass das Modell übertragen werden kann. Wie die Wirklichkeit beschaffen ist, hängt allein vom Betrachter ab. Ein universelles Modell ist autonom.

Auch wenn das subjektive Erleben seit der Romantik ein wesentlicher Aspekt bildender Kunst ist, gilt für sie dennoch wie für die klassische Kunst, dass sie etwas Allgemeingültiges zum Ausdruck bringt. Das Allgemeingültige ist etwas, das auf alle und alles übertragen werden kann, das universell ist, das als Modell fungieren kann. Die klassische Kunst entspricht im hohen Maße dem Ideal des Universellen, sie lieferte Modelle. Die Abwandlung eines Modells fand im Rahmen der einer jeden Kunst eigentümlichen Rhetorik statt. Wenn die Modelle der klassischen Kunst kaum noch eine Bedeutung zu spielen scheinen, dann liegt das nicht an der klassischen Kunst und ihren Modellen, sondern am Betrachter, dessen Wahrnehmung der Wirklichkeit sich in der Weise verändert hat, dass er die Modelle nicht mehr auf seine Wirklichkeit überträgt. Das ändert an dem Modell und seiner Gültigkeit nichts.

Wer den Auslöser eines Fotoapparates bedient, sagt in dem Moment, in dem er die Aufnahme macht, dass es so gewesen ist oder dass er es so gesehen hat. Weder liegt der Aufnahme eine Möglichkeit noch eine Notwendigkeit zugrunde. Die Aufnahme ist entstanden, weil es sich so verhalten hat. Fotografien sind wirkliche Modelle, gleichgültig ob man eine Betonung darauf legt, es selbst gesehen zu haben oder dass es so gewesen sein soll. Fotografien sind Urteile, die sich auf die Wirklichkeit beziehen.

*1Wittgenstein schreibt im Tractatus: “Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit“ (2.12). Zählt man Fotografien zur Klasse der Bilder, sind Fotografien Modelle der Wirklichkeit.

Wenn man annimmt, dass es eine halbe Milliarde Smartphones (auf der Erde) gibt, mit denen durchschnittlich pro Tag 1,5 Bilder gemacht werden, dann werden allein mit Smartphones täglich 750 Millionen Bilder produziert. Nach Wittgenstein würde das bedeuten, dass jeden Tag 750 Millionen Modelle entstehen. Welche Bedeutung hat ein Modell dann noch? Wie lassen sich diese Modele voneinander unterscheiden oder lassen sie sich vielleicht in Gruppen einteilen? Ist ein Bild wirklich ein Modell oder zeigt sich im Bild vielmehr ein Modell?

Es gibt einen Unterschied zwischen a x a = a2 und a – b = c. Im ersten Fall kann für a ein beliebiger Buchstabe stehen, da mit dem Buchstaben a keine konkrete Zahl verbunden ist (außer Null, da das keinen Sinn machen würde). Hingegen sagt die zweite Formel, dass a nicht gleich b ist, wenn c nicht Null sein soll. In beiden Fällen handelt es sich um ein Model, doch der Inhalt der Modelle ist in der Hinsicht unterschiedlich, als die Inhalte entweder austauschbar sind oder eine Signifikanz haben. Wenn Bilder Modelle der Wirklichkeit sind, dann gilt auch für Bilder, dass ihre Inhalte entweder austauschbar oder signifikant sind. Demnach gibt es also Bilder, die austauschbar sind und solche, die eine gewisse Signifikanz aufweisen – unabhängig davon, dass vielleicht täglich 750 Millionen Modelle produziert werden.

*2John Divola sagt: „In a photograph, a goat can be all those things as well. But in a photograph it’s always also just a photograph of one particular goat at one particular time and place.“ (Words without pictures, S. 141). Damit meint Divola den Unterschied zwischen Bildern und Fotografien, der für ihn darin besteht, dass in Bildern den Bildgegenständen eine Bedeutung gegeben wird, während eine Fotografie, unabhängig davon, dass sie eine Bedeutung haben kann oder nicht, auf einer Ebene einen Gegenstand einfach, also im Sinne von sachlich und neutral abbildet. So gesehen scheinen Fotografien am Ende doch keine Modelle zu sein, sie müssten aber auch aus der Klasse der Bilder ausgeschlossen werden. Divolas Annahme liegt zugrunde, dass Bilder Interpretationen, hingegen Fotografien (lediglich) Sachaufnahmen sind. Auf die Modelle übertragen, besagt Divolas Anahme, dass jedem Modell notwendig eine Interpretation der Wirklichkeit zugrunde liegt. Selbst wenn man diese Annahme bestehen lässt, Modelle seien Interpretationen, während Fotografien die Wirklichkeit einfach nur abbilden, kann eingewendet werden, dass es theoretisch wie praktisch unmöglich ist, eine reine Sachaufnahme zu produzieren, da schon die Frage nach einer objektiven Kameraperspektive nicht beantwortet werden kann. Fotografieren bedeutet immer interpretieren, selbst dann, wenn die Interpretation gedankenlos ist. Der Grad der Abbildungsgenauigkeit spielt hinsichtlich der Frage der Interpretation und somit der Entstehung von Modellen keine Rolle.

*3Roland Barthes schreibt in „Die helle Kammer“, dass es in der Natur der Fotografie liege, etwas Tautologisches zu haben (Die helle Kammer, S. 13). Gedankenspiel: Das Modell von einem Modell ist ein Klischee. Das Klischee beinhaltet die Struktur des Modells, es zeigt die Struktur des Modells. Das eigentliche Modell hingegen ist an die Wirklichkeit angelehnt, es ahmt die Struktur der Wirklichkeit nach, es enthält keine eigene Struktur. So gesehen ist das Klischee eines Modells die Nachahmung einer Nachahmung, folglich eine leere Tautologie. Das Klischee zeigt im strengen Sinne, was es nicht gibt.

ARAT

ALESCHABIRKENHOLZ

BY

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